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  • AutorenbildSusi

Wir.

Wir machen Urlaub. *Wir* (also: er und ich) sitzen mit einem anderen Paar am Campingtisch und bekommen Tipps für coole Ausflugsziele.

Auch er hat Tipps für die anderen, denn er war dieses Jahr schon zweimal hier. "Also *wir* haben hier...." erzählt er von den Erlebnissen der vergangenen Reisen.

Etwas in mir zuckt.

*Wir* heißt in dem Fall nämlich nicht: "er und ich", sondern: "er und sie", wobei *sie* mal die eine und mal eine andere war. Ich war nicht dabei.

Und mal wieder bin ich an einem Punkt, wo ich eine Ahnung davon habe, dass Realität (Fakten) und Wahrheit nicht immer ein- und dasselbe sind.

In der Realität war ich nicht dabei!

Aber ist das auch die Wahrheit?

Solche Szenen wiederholen sich in diesem Urlaub, den *wir* (also: er und ich) zusammen mit unseren Fahrrädern machen. Ich höre seinen *wir*-Geschichten zu, die nicht von mir zu handeln scheinen. Er und sie waren paddeln. Er und sie (eine andere sie) waren klettern.

Ich war nicht dabei. Mein Verstand empört sich. Wieso sagt er *wir*, wenn ich gerade neben ihm stehe? Kann der nicht wenigstens *ich* sagen? Also, er-ich, weil ich-ich war ja nicht dabei. Oder?


*Wir*. Ich kenne dieses *wir*, wenn andere von etwas erzählen und ich wie von aussen zusehe, mich ausgeschlossen fühle, weil ich nicht dabei bin, bei diesem *wir*.

Und nun sagt er wieder *wir*, während er liebevoll den Arm um mich gelegt hat, und ich korrigiere in Gedanken *sie* (also: er und sie) waren das, nicht *wir* (also: er und ich). Und es tauchen Bilder auf, die seine Erzählungen in meinem Kopf haben entstehen lassen. Wie er und sie beim Paddeln gegen Wind kämpfen und wie er und eine andere sie für ihn leichte und für sie waghalsige Klettermanöver machten. Und ich fühle mich ein wenig, als sei ich dabei gewesen.


Er sollte in meinem Beisein nicht "wir" sagen, wenn ich nicht dabei war. Denkt es wieder in mir. Und etwas fragt sich: ist das wahr? Ist es wahr, dass ich nicht dabei war? In der Realität ja, aber was ist die Wahrheit?


Ich ahne, dass sein *wir* kein ausschließendes, sondern ein einschließendes *wir* ist und dass ich - auch wenn mein kalkulierender Verstand da nicht ganz mitkommt, dennoch ein Teil von diesem *wir* (also: dem er-und-sie-wir) bin.


Raucht dir jetzt beim Lesen schon der Kopf? Blickst du noch durch, wer denn nun *wir* und wer *sie* und wer *ich* ist? Glaube mir, mir raucht er auch, also der Kopf. Der, der immer noch monogame Kriterien ansetzt, um die komplexe polyamore Grammatik zu verstehen. So als versuche ich eine fremde Sprache eines komplett anderen Kulturkreises mit meiner deutschen Grammatik restlos zu durchdringen. Hoffnungslos.

Und dann macht irgendetwas in mir Pling und strahlt. Ich fühle die Wahrheit in allem meinen Zellen. Ohne sie erklären zu können: *Wir*


*Wir* waren paddeln, *wir* waren klettern und ein Teil von mir war dabei, wenn auch mein Körper woanders war. Das ist die Wahrheit.

Bald werden *wir* wieder hier sein. *Wir*: mein Sohn und ich, die Gegend ist einfach zu schön, ich will mein Kind daran teilhaben lassen, vielleicht komme ich aber auch mal mit einem anderen lieben Menschen her.

Und auch er plant noch einmal hier her zu reisen, mit ihr. Vielleicht wird er dann, während er den Arm zärtlich um sie legt, in einem Gespräch mit anderen Leuten sagen: "Wir" (also: er und ich) "waren im Sommer mit dem Fahrrad hier". Und sie wird vielleicht denken: "Ich war nicht dabei".


Und etwas in ihr wird wissen, dass das allenfalls die Realität, aber nicht die Wahrheit ist.


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