Was hat er da gerade gesagt? "Sekundärgewinn?" Was bitte schön soll das denn sein. Ich soll einen Gewinn haben aus meiner Krankheit? Aber ich will doch gar nicht krank sein!!!
Und doch: mitten im inneren Veto fühle ich mich von dieser Frage unglaublich angemacht, ja fast schon erregt. Wie der Reiz des Verbotenen die Libido manchmal anstachelt, so spüre ich ein freudig-neugieriges Kribbeln in allen meinen Zellen. Ich verstehe diese paradoxe Frage nicht und ich möchte herausfinden, was sie in mir hervorbringen könnte.
Das war vor ca. 30 Jahren und mein erster Besuch bei einem Homöopathen. Diese und weitere Fragen haben es mir danach immer wieder angetan. Wann immer ich feststeckte. Und meistens passierte das rund um die Themen Sexualiät und Beziehung.
Manchmal geht es gar nicht darum, wirklich Antworten zu finden für die Fragen. Es geht vor allem darum, sich von den Fragen selbst berühren zu lassen. Eben dieses Kribbeln zu spüren. Umso größer der Widerstand, umso größer ist manchmal das Kribbeln darunter. Und dann still werden mit den Fragen. Ja, still. Und noch stiller. Sich darauf einlassen, die Frage *nicht* zu verstehen und die Antwort *nicht* zu suchen. Einfach sein damit. Und Atmen. (Atmen kann übrigens nie schaden). Einfach der Frage erlauben, da unbeantwortet, verrückt und vermeintlich unpassend irgendwo in einem luftleeren Raum zu schwingen. Das allein kann schon so viel auflösen. Und wenn dann auf einmal wie aus dem Nichts eine völlig unerwartete Antwort auftaucht, dann, ja dann, weiß ich was mich so erregt hat: meine tief in mir verborgene Wahrheit. Und ja, die ist nicht immer nett und doch immer freundlich.
Jahre später begegnete mir The Work of Byron Katie. Wieder Fragen, gleich vier davon, die vielleicht "frechste" von allen ist gleich die erste. "Ist das wahr?". Also ich glaube etwas felsenfest und wahrscheinlich habe ich auch jede Menge Beweise, dass das so ist.
Was soll dann die Frage "Ist das wahr?"?
Die Krankheit bringt mir nur Verluste. Ist das wahr?
Meine Ehe steckt in einer tiefen Krise. Ist das wahr?
Ich habe definitiv Orgasmus-Schwierigkeiten. Ist das wahr?
Ich begegne immer nur den falschen Männern. Ist das wahr?
Die Kritik an mir ist ungerechtfertigt. Ist das wahr?
Das Fragen rüttelt am Kartenhaus meines ICHs. Ich bin die, die so und so und so und so ist. Mein Ego kämpft, manchmal tut das ganz schön weh. Und doch: was wenn ich auch noch ganz jemand anders wäre? Was wenn ich über meinen Schatten springen und fliegen könnte?
Es hat sich viel getan in den 30 Jahren. Ich habe gelernt auf meine Nase zu hören, die mich mit ihren diversen Erkrankungen immer wieder zur Langsamkeit ermahnte. Ich habe den Verlust von zwei Kindern überlebt und ein lebendes geboren, als ich schon dachte, dass mir dieses Glück nicht mehr vergönnt ist. Ich habe das Band der Ehe mit meinem Mann gelöst, um ihn für immer lieben zu können. Ich habe entdeckt, dass ich vermeintlicher "Kopfmensch" sehr viel sinnlich-sexuelles und kreatives Potential in mir habe (ja, ich bin orgasmusfähig und noch viel mehr) und mit meinen Geschichten über schambehaftete Themen viele Menschen berühre. Ich bin in einer Liebesbeziehung gelandet, die mir manchmal schreckliche Angst macht, weil sie so viel Weite in mir hervorbringt, dass es sich manchmal anfühlt, wie nach den Sternen zu greifen: die Bereitschaft meinen Partner mit anderen geliebten Menschen zu teilen.
Und wann immer ich denke, ich könne oder etwas ginge nicht, schwingt da mal lauter und mal leise eine Frage mit. "Wirklich?". Und selbst wenn, es gibt immer einen Sekundärgewinn. Und ich bin süchtig danach, den zu entdecken, einfach weil das Leben so viel mehr Spass macht, wenn nichts mehr in Stein gemeißelt ist.
Fotos: Monika Engisch und bekah russom auf unsplash
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