Prolog:
Es gibt zwei Orte in mir.
Der eine: endlose Weite, Sternenhimmel, Meeresrauschen, Vertrauen und Hingabe.
Der andere: steinerne Enge, Gefangenschaft, Angst und Kontrolle.
Ich habe noch nicht raus, wann ich welchen wähle und vor allem warum. Aber ich weiß, dass ich beide wählen kann und das allein macht mein Leben schon so viel reicher.
Die Enge.
Er kommt mir freudig entgegen, umarmt und küßt mich und stellt mir dann die Frau vor, die ihm folgt.
Da ist sie wieder. Die Angst. Angst, mir könne etwas weggenommen werden, was mir eh nicht gehört. Angst, er könne mir etwas sagen, was ich nicht hören will und zugleich unbedingt hören will. Schließlich ist es das, wofür wir uns entschieden haben: gnadenlose Ehrlichkeit.
Und so sagt er, was ich bereits "hören" konnte, bevor er die Lippen jetzt öffnet: er und sie möchten "Zeit miteinander verbringen". Mir könnte übel werden, ja fast schwarz vor Augen. Mein inneres *Mach-dich-stark-System* springt an. In Nanosekundenschnelle errichte ich Mauern um mein Herz. Vor den Mauern bewacht mich Taubheit, hinter ihnen wartet Übelkeit.
Ich fühle mich in der Falle. Ich denke, ich habe kein Recht, dagegen zu sein. Ja, in der monoamoren Welt, da hätte ich das. Aber da würde er wohl gar nicht erst fragen, er würde diese Frau entweder heimlich daten, sprich mir fremdgehen oder darauf verzichten. Anziehung würde er wahrscheinlich dennoch empfinden.
Aber hier in der polyamoren Welt gelten andere Gesetze. Theoretisch ist hier (fast) alles erlaubt, außerdem hatte ich doch gerade vorgestern selbst Sex mit einem anderen, da darf ich doch nicht sagen, dass ich ich jetzt nicht will, dass er die Nacht mit ihr verbringt?
Während all das und noch viel mehr in rasender Ohnmacht durch meine Hirnwindungen und meine Eingeweide rast, kommt zunächst kein Ton aus meinem Mund. Ich hab genug damit zu tun, nicht auch noch die Atmung einzustellen. Schließlich presse ich, mit den Tränen kämpfend, doch ein paar ärgerliche Worte heraus. Sie, die ich bis eben nichtmal kannte, erfasst die Situation sofort und zieht sich taktvoll zurück, lässt uns allein.
Jetzt wo ich meine Tränen und den Schmerz eh nicht mehr zurückhalten kann, sage ich ihm, wie ich mich fühle. Hilflos und verloren. Ich werfe ihm vor, dass er mich vorführt, weil ich glaube, in dieser Situation ja wohl kaum "nein" sagen zu können.
Die Weite.
Er schaut mich liebevoll und zugleich erstaunt an. Sagt mir, da hätte ich wohl was falsch verstanden: ich habe alles Recht, *nein* zu sagen. Ich habe alles Recht, verletzt zu sein, meine Angst und meine Eifersucht zu zeigen.
Und nicht nur das. Er sagt mir, dass er mich liebt, weil ich so bin, wie ich bin und nicht wie ich glaube, sein zu müssen. Vor allem jetzt und hier in meiner Hilflosigkeit und Verzweiflung.
Ich weine jetzt hemmungslos. Wasser höhlt Stein und meine Tränen die eben noch hocherrichteten Mauern um mein Herz. Auf einmal ist alles gleichzeitig da: Schmerz, Freude, Widerstand und Liebe. Ja, da ist Schmerz und jetzt wo ich ihn fühle, auch Hingabe. Ein weites Meer an Liebe. Wir reden lange. Am Ende bin ich zwar immer noch nicht entzückt, kann aber keinen wirklichen Widerstand mehr finden. Ich sage es ihm.
Fast möchte ich ihm zusätzlich meinen Segen geben für eine wunderbare Nacht. Aber nur fast, ich spüre, wie ich schwanger gehe, mit dieser Fähigkeit und noch ist sie nicht reif, geboren zu werden.
Etwas in mir formt sich zu dem Wunsch, ihr das zu sagen, nicht ihm. Werde ich mich trauen, meiner eigenen Courage vertrauen?
Als wir uns am Abend wieder treffen und er ihr offensichtlich signalisiert hat, dass sie grünes Licht haben, kommt sie auf mich zu. Sie sagt, sie wolle nochmal von mir persönlich hören, ob das wirklich OK für mich sei. Und sie sei total OK, wenn es nicht so sei. Dann wolle sie es nicht.
Ich fühle mich gesehen und gehört.
Ich. Darf. Sein.
Sie. Darf. Sein.
Er. Darf. Sein.
Wir. Dürfen. Sein.
Und schon kullern sie wieder, meine Tränen. Tränen der Hingabe an die Weite des Himmels und des Meeres in unseren Herzen.
Wir sitzen noch eine Weile zusammen. Er, sie, ich. Ich spreche über meine Eifersucht, die mich immer mal wieder so massivst am Schopfe packt und mich fast erwürgen will. Wir sprechen darüber, wie es für mich ist, als - zumindest bis vorgestern - monoamore Frau an der Seite eines polyamoren Mannes zu sein. Wie es für mich ist, so aus einem gutbürgerlichem, eher "klassischem" Umfeld in diese freie Welt hineingeliebt zu werden. Ich spüre aufrichtiges Interesse, nein, eigentlich viel mehr: ich spüre Liebe.
Es wird still in mir. Worte sind nicht mehr nötig. Die Entscheidung ist eh gefallen. Meine Entscheidung.
Das sehe ich jetzt ganz klar. Es ist nicht nur die Liebe, die ich von ihr und ihm spüre, es ist auch die Liebe, die ich in mir spüre. Die Liebe, die trotz Angst schon längst *ja* gesagt hat, zu dem Wunsch der beiden, Zeit miteinander zu verbringen.
Ich verbringe die Nacht alleine. Für heute ist es gut. Ich spüre, wonach es mich wirklich heute sehnt - nach Zeit mir mir allein. Ich schenke mir diese Zeit.
Ich schlafe gut und tief. Im Traum sehe ich meinen Partner. Er sitzt oder eher schwebt auf der Bettkante und schaut mich an. Dann schaut er eine andere Frau an. Dann wieder mich. So geht das im Wechsel. Ich spüre, es ist kein entweder-oder, es ist ein sowohl-als-auch. Ich sehe Verbindung, Vertrauen, Kraft und Hingabe.
Am Frühstücksbuffet treffe ich sie wieder, vor 24 Stunden kannte ich sie noch nicht. Jetzt kommt sie mir fast wie eine gute alte Freundin vor. Wir begrüßen uns herzlich und warm. Dann fragt sie mich, ob er schon wach ist. Die Frage ist nur scheinbar absurd, wo doch sie und nicht ich die Nacht mit ihm verbracht hat. Und doch ist die Frage Spiegel der inneren Ordnung in dem scheinbaren Durcheinander unserer polyamoren Lebensweise.
Ich sage ihr, dass ich keine Ahnung habe, aber wie ich ihn kenne, pennt er noch. Ich packe ein paar Brötchen ein und beschließe sie ihm zu bringen. Was könnte mich daran hindern, außer dass er kurz darauf schon neben mir steht und mich liebevoll begrüßt?
Epilog:
Während ich diese Geschichte aufschreibe, begegnen mir wieder beide. Die Enge und die Weite. Die Enge, die wettert und Angst hat. Die Weite, die immer wieder kraftvoll aus dem Nichts geboren wird. Und der Kampf, den die Enge gegen die Weite führt.
Ich sehe, beide haben nur gute Absichten. Die Enge, sie will mich schützen, sie ist das hilflose Kind, dass nur diesen Weg kennt. Die Weite, sie liebt mich bedingungslos. Sie ist die Erwachsene, die um meine Stärke weiß.
Die Enge, sie macht sich Sorgen um mich. Die Weite, ist voller Vertrauen und frei. Ich werde beiden noch oft begegnen. Und meinem großen gönnenden Herzen. Und meiner Hingabe, der an die Größe meiner Liebe, aber auch der an meine Kleinlichkeit.
Bild: Milan Popovic on Unsplash und Monika Engisch
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