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  • AutorenbildSusi

Sucht.

Ich halte es kaum aus. Alles in mir zieht sich zusammen. Ich schaue in einen Abgrund. Das Wort ist Sucht. Seine, meine. Aber das halte ich noch weniger aus.

Jeden Morgen das gleiche. Langsam löst sich der Schlaf von mir und umso mehr er sich löst, kommt etwas anderes hinein, ein Stück Bewußtsein, Denken, eine Ahnung davon, dass da ein *ich* gerade aus dem Schlaf erwacht.

Noch bevor ich aber bewußt denke, ergreift mich dieses Gefühl. Eine Schwere auf meinem Brustkorb, etwas morbides in meinem Unterleib. Ein graugrüner Schleim, der sich durch meine Eingeweide zieht. Zuerst kommt das eine Wort, dann das andere. Noch ist es nichtmal ein Gedanke, oder ein Satz, und doch ist es schon die ganze Geschichte.


Das eine Wort ist "Sucht", das andere ist sein Name, dicht gefolgt von ihrem Namen.


Es zieht mich tiefer in den Sumpf auf dem dunkle Nebelschwaden liegen. Ich weiß, ich sollte fliehen und gleichzeitig locken mich die süßen Stimmen der Sirenen. Halte durch, halte durch.


Ja, ich bin eifersüchtig. Ja, er hat tatsächlich mein Vertrauen verletzt. War unehrlich mit mir, hat es geschafft mich mitten in einer von Ehrlichkeit geprägten offenen Beziehung zu "betrügen".


Aber die Gefühle zu der Eifersucht und dem Vertrauensverlust sind anders, die sind spitz und schrill. Sie tun weh, aber sie sind auch lebendig.


Dieses Gefühl hier ist eher tot, zumindest todgeweiht. Da scheinen Arme aus dem Sumpf hervorzukommen, die mich runterziehen wollen. "Sucht", das Thema ist Sucht.


Klar, seine Sucht. Er ist der Süchtige. Ich wußte das eigentlich schon seit der Sache mit dem nächtlichen obzessiven Videoschauen. Das war lange bevor sie auf der Bildfläche erschien. Doch spätestens seit sie da ist, ist es so klar. Er steht vor mir, sagt, dass sein Verknalltsein nichts ändere an seiner Liebe zu mir und das hat er mir ja auch bewiesen in den Monaten bevor sie auftauchte. Ich möchte mich einlullen mit diesem Gedanken, möchte ihm so gerne glauben, schaffe es dann auch jeden Morgen, das Gefühl so weit unterzubuttern, dass ich irgendwie aufstehen und weitermachen kann.


Aber tief in mir schwelt es weiter. Wenn ich an sie denke, könnte ich nur kotzen. Ich sehe, wie sie nach ihm greift und er von ihr genauso weggezogen wird, wie ich von diesem Sumpf. Der Abgrund. Ich will nicht hineinschauen. Ich gebe lieber ihm die Schuld und noch lieber ihr. Und wenn das nicht hilft, einfach meiner Eifersucht und dass ich eben doch mit der Polyamorie nicht so klar komme, als beweise das meine Unfähigkeit.


Alles Beruhigungsmittel, alles Gedanken, die mich zwar aufregen, aber wenigstens in die Lebendigkeit bringen, raus aus dem Sumpf, der mich unweigerlich tiefer und tiefer nach unten in die Dunkelheit ziehen wird.


"Sucht" ist der Gedanke. Sätze dazu mag es viele geben. Er, seit vielen Jahrzehnten clean, hat seine Suchtstruktur nie verhehlt vor mir. Ich dachte, es könnte gehen. Er ist süchtig nach dem nächsten Kick, aber solange der Kick ich war, war mir das wohl ganz recht. Ich spüre, ich bin gefangen. Eine Gefangene seiner Sucht, eine Gefangene meiner Sucht nach ihm und ich hasse hasse hasse sie wegen ihrer Sucht nach ihm. Sie, die ihn hörig zu machen scheint, wie ich glaube. Die Sucht nach dem Verliebtsein, dem Drama, dem Besitz-Ergreifenwollen, der Intensität und der Lüge.


Und die Nebelschwaden greifen nach mir, der Sumpf.


Ein Gedanke drängt sich auf.


"Ich verliere ihn an seine Sucht"


Endlich kommen Tränen, noch sitzen sie hinter den Augen. Ja, das ist es: Ich verliere ihn an seine Sucht.


Mir wird übel. Ja, ja, ja, es ist wahr, ganz offensichtlich.


Sicher? Nein, aber das ist egal. Ich will glauben, dass es so ist.


Ich liege im Bett und kämpfe gegen den Sumpf an. Kämpfe ums Überleben. Um eine Chance irgendwie in dieser Beziehung zu bleiben und Monate später, als ich längst die Reißleine gezogen und mich getrennt habe, immer noch. Da ist es dann nur: "Ich habe ihn verloren an seine Sucht." Und mir ist immer noch übel.


Jeden Morgen. Ich verliere ihn. Jeden Morgen aufs Neue. Täglich grüßt das Murmeltier. Ich will es immer noch nicht wahrhaben, obwohl ich es längst wahr habe. Und dann kommt der Sumpf und zieht mich hinab.


Was, wenn ich aufhöre zu kämpfen mit dem Gedanken "ich verliere ihn an seine Sucht.". Was wenn ich nur wahrnehme, dass etwas gerade zu Ende geht und stirbt. Wenn ich den Schatten folge, ohne mich von den Sirenenstimmen einlullen zu lassen? "Ich verliere", etwas geht verloren. Ich? Es? Ein Traum?


Ich sehe den Sumpf. Ich setze vorsichtig meinen Fuß hinein. Er ist wohlig warm und umschmeichelt meinen Fuß. Ich setze auch den anderen hinein und mein Gewicht zieht mich nach unten. Ich lasse es jetzt geschehen, werde ich ersticken? Ich bleibe ruhig. Es ist ja nur ein Bild. Ich atme und sinke und sinke und sinke. Und dann umgibt mich die Schwärze, aber ich lebe noch. Es ist wie ein Schweben in der Stille. In der Stille der Dunkelheit. Dunkelheit, aber nicht Finsternis. Eine tiefe Ruhe ergreift mich. Ich lasse los. Erst jetzt merke ich, dass ich immer noch seine Hand hielt. Ein kurzer heftiger Kampf in meiner Brust. Neinneinnein, ich kann nicht, ich kann ihn noch nicht ganz loslassen. Das würde ja heißen, dass ich verloren habe.


Und ohne den Gedanken, wieder Stille, Ruhe, Entspannung. Ich kann atmen, dort am Grunde des Morasts. Ich lebe.


Ich verliere mich an meine Sucht. Jeden Morgen verliere ich mich an meine Weigerung ihn loszulassen. An meine Weigerung eine Vorstelllung von mir loszulassen, wer ich sein könnte, wer ich war, in den glücklichen Zeiten mit ihm. Ich verliere mich an mein krampfhaftes Festhalten an dem Gedanken, das sei alles nur wegen seiner Sucht gewesen. An meiner Weigerung anzuerkennen, dass es eine wunderschöne Zeit war, bis meine Wege sich von ihm trennten, lange bevor die Neue auftauchte. Ich hatte längst einen Abzweig gewäht, weil ich ahnte, dass der Liebes-Rausch nicht reichen würde, um die gravierenden Unterschiede unserer L(i)ebensentwürfe zu überdecken.


Ich verliere ihn nicht an seine Sucht. Wie könnte ich, wo er mir doch nie gehörte?


Ich gewinne ihn an seine Sucht. Da klingelt leise was. Ich weiß noch nicht was. Ich nehm das mal mit und schau es mir an, wenn der Nebel morgens wieder kommt und etwas mich in den Abgrund ziehen will.

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