Sie sah ihn schon von weitem. Er stand an der Bahnhaltestelle.

Er war betrunken. Er schwankte. Er war eklig.
Sie beschleunigte ihren Schritt, preschte an ihm vorbei. Er folgte ihnen, sprach sie an. Er habe coole Zeichnungen zu verkaufen. "Art-Work". Sie behandelte ihn wie Luft, sprach mit dieser und presste unverständliche Worte heraus, die das Angebot ausschlugen.
Er sprach nun mehr mit sich selbst als mit ihnen. Kämpfte mit dem Wort "Art-UUUUhhöööörk", "Aaard-vvvööörk". Ein Logopäde hätte seine Freude gehabt. Sie nicht, sie floh, zurück ans andere Ende des Bahnsteigs.
Er war betrunken. Er schwankte. Er war unangenehm.
Sie tat als sei nichts geschehen. Sie wartete auf die Bahn. In ihr eine leere Wüste. Kälte. Beklemmung. Sie fühlte sich abgeschnitten. Sie wußte, er war harmlos und doch spürte sie Bedrohung.
Sie spürte, was immer sie jetzt sagen oder denken würde, es wäre eine Lüge. Nicht ihre tiefste Wahrheit, zu der hatte sie keinen Zugang.
Er bettelte. Er war eine Klette. Er war eklig.
Er kam zurück. Er könne ihnen auch einen Flummi verkaufen, sagte er und lies den Flummi auf den Boden springen. Und dann sprachen sie zeitgleich.
Sie - diesmal klar akzentuiert: "Wir wollen NICHTS kaufen."
Er - leicht lächelnd: "Der kostet 500.000 Euro. Der ist nämlich aus echtem Achat."
Sie schwankte. Sie schämte sich. Sie war eklig.
Ihr Herz hatte sich geöffnet. Von jetzt auf gleich. Sie wußte nicht, was tun damit. Etwas lähmte sie noch. Eine Art Scham.
Sie spürte, warum sie ihn nicht ansehen konnte. Sie bettelte ihn förmlich an, wegzubleiben. Er war wie sie. Und sie hatte sich abgewandt. Vor ihm? Vor sich selbst?
Er war bedürftig. Er war liebenswert. Er war ein Mensch.
Sie sah ihn lächelnd an, wie er weiter über den Wert des Flummis sinnierte. Er redete nun wieder mehr mit sich selbst. Sie fühlte Liebe für ihn. Wußte nicht wohin damit. Sie war noch nicht so weit.
Sie versuchte es mit Verurteilung. "Trinken hilft da auch nicht" dachte sie bei sich und verschloß damit ihr Herz wieder. Vor ihm? Oder mehr vor sich selbst?
Sie war trunken. Sie war arm. Sie war eklig.
Er war süß. Er war humorvoll. Er war angenehm.
Sie hätte ihn am liebsten umarmt.
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